Rezension: Meysen, Lohse, Schönecker, Smessaert: Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG
Meysen | Lohse | Schönecker | Smessaert: Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, Baden-Baden Nomos, 2022, 334 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-8487-7215-5, 44,00 €
Mit dem Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) erlebt das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) eine der größten Reformen der letzten Jahrzehnte. Die Stärkung der Rechte der Betroffenen und der Rechte von Careleavern, die inklusive Weiterentwicklung, die Änderungen im Kinderschutz sind nur einige Neuerungen, die auf die Kinder- und Jugendhilfe, die Familiengerichtsbarkeit und die medizinische Versorgung von Eltern und ihren Kindern zukommen.
Außer den Herausgebern selbst
Dr. Thomas Meysen, SOCLES International Centre für Socio-Legal Studies, Heidelberg;
Katharina Lohse, Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF), Heidelberg;
Lydia Schönecker, SOCLES International Centre für Socio-Legal Studies, Heidelberg;
Angela Smesssaert, Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Berlin
haben sich weitere Koryphäen der Kinder- und Jugendhilfe an der Darstellung einer der größten Reformen der letzten Jahrzehnte und deren Auswirkungen für die Praxis beteiligt:
Susanne Achterfeld, LL.M., Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF), Heidelberg;
Dr. Janna Beckmann, Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF), Heidelberg;
Sabine Gallep, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Potsdam;
Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth.
Dass der Umfang der jeweiligen Beteiligung sich nicht genau erfassen lässt, tut dem brillanten Teamwork keinen Abbruch.
Das einleitende Vorwort (S. 5f) erläutert, wie sich der Aufbau des Werks an den Grundthemen der Reform orientiert:
- Stärkung von Rechten der Kinder und Eltern
- inklusive Weiterentwicklung des SGB VIII
- bedarfsgerechtere Hilfen
- Hilfeplanung, Perspektivklärung und Verbleibensanordnung
- Junge Volljährige und Careleaver
- Kinderschutz und Kooperation
- Kinderschutz in stationären Hilfen
- Digitale Neujustierung, Schnittstellen zur Gesundheitshilfe, Statistik.
Dieser Aufbau garantiert dem Leser das vollständige Verständnis der KJSG-Reform: Jedem Unterkapitel ist die Neufassung der Norm (ggf. synoptisch) vorangestellt. Daran schließen sich alle enschlägigigen Gesetzesmaterialen und - soweit von Interesse - die Stellungnahmen der Fachverbände an. Die inhaltlichen Erläuterungen umfassen den Hintergrund der Neuregelung und deren Regelungsinhalt und geben Hinweise für die Umsetzung in der Praxis und auf weiterführende Literatur. Nach der ausgezeichnet gegliederten Inhaltsübersicht (S. 7 - 9) erlaubt ein Paragrafenverzeichnis (S. 11 - 14) eine exakte Zuordnung einer jeden von der Reform erfassten Vorschrift zu den diese betreffenden Kapiteln und Randnummern. Natürlich fehlen auch nicht Abkürzungs- (S. 15 - 17) und Stichwortverzeichnis (S. 327 - 334). Das Literaturverzeichnis - man kann es nicht anders sagen - ist beeindruckend (S. 313 - 326).
Da es nicht möglich ist, die gewaltige Informationsdichte des Werks insgesamt darzustellen, mögen dessen Vorzüge am Beispiel des Begriffs "selbstbestimmt", der durch das KJSG in § 1 SGB VIII (und an einigen weiteren Stellen) neu aufgenommen worden ist, erhellt werden.
Bereits vor Inkrafttreten des KJSG sah § 11 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII vor, junge Menschen zur Selbstbestimmung zu befähigen. Hätte es der Aufnahme der Selbstbestimmung in § 1 SGB VIII also gar nicht nicht bedurft? Mit der programmatischen Vorgabe der Selbstbestimmung sind weder Rechtsfolgen noch Leistungsausweitungen verbunden. Die Frage stellt sich ebenso für § 22 SGB VIII (Grundsätze der Förderung), dessen neuer Abs. 2 Nr. 1 jetzt nicht mehr nur zur Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen, sondern auch zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit aufruft. Entsprechendes gilt für § 24 SGB VIII (Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege) und dessen neuen Abs. 1 Nr. 1. Ursprünglich (Bearbeitungsstand v. 17.03.2017) sollten nur die Wörter „möglichst selbstbestimmt“ eingefügt werden. Diese Einschränkung auf das Machbare ist entfallen. Nach § 1 Abs. 1 SGB VIII in der Fassung des KJSG hat jetzt jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer "selbstbestimmten", eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Was darunter zu verstehen ist, wird in dem neuen § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII damit umschrieben, dass die Jugendhilfe "jungen Menschen ermöglichen oder erleichtern [soll], entsprechend ihrem Alter und ihrer individuellen Fähigkeiten in allen sie betreffenden Lebensbereichen selbstbestimmt zu interagieren und damit gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können".
Damit stellen sich zumindest drei Fragen:
a) warum führt das KJSG den Begriff "selbstbestimmt" überhaupt in § 1 SGB VIII ein,
b) wie ist den Begriff "selbstbestimmt" zu verstehen und
c) was ändert sich damit für die Praxis?
Schönecker, Meysen und Lohse beantworten diese Fragen in Kapitel 1 "(Neu)Ausrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe" (S. 19 - 42) wie folgt:
a) Die Neujustierung im Selbstverständnis bzw. in der allgemeinen Grundausrichtung soll den Blick auf den eigenen Auftrag "nochmal gezielt" schärfen (S. 19). Das Werk zitiert den Regierungsentwurf (BT-Drs. 19/26107, 71) und erinnert an den Schutz behinderter Menschen durch die UN-BRK, das Teilhaberecht des BTHG (SGB IX) und das der "befähigenden Erziehung zur Selbstbestimmung" innewohnende Spannungsverhältnis (§ 1626 Abs. 2 BGB). "Die Änderung begründet für die jungen Menschen .... keine Erweiterung ihrer individuellen Rechte und Ansprüche" (S. 21). Gleichwohl soll sie Hilfekonzepte und Hilfeplanungsprozesse, auch im Rahmen der Kindertagesbetreuung, beeinflussen.
b) Eine Definition des Begriffs "selbstbestimmt" findet sich nicht im Werk und war angesichts seiner Komplexität auch kaum zu erwarten, umgreift er moraltheoretisch Individualität, verschiedenste Selbstverhältnisse, von der Selbsterkenntnis über das Selbstbewusstsein bis zur Selbstverwirklichung. Ähnlich wie beim Begriff der Gerechtigkeit glaubt man zu wissen, was dieser bedeutet. Die Sicherheit schmilzt beim Versuch, es in Worte zu fassen. Noch weitaus größer sind die Schwierigkeiten, Selbstbestimmtheit bei Kindern zu bestimmen. Die Bedeutung, dass jeder Mensch selbst darüber entscheiden darf, wie er leben möchte, ist nicht ohne weiteres auf Kinder und Jugendliche zu übertragen. Ein Beispiel dafür ist die Religion, über die Kinder erst
mit Vollendung des 14. Lebensjahres entscheiden können (§ 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung v. 15.07.1921). Ein Recht auf Selbstbestimmung besteht also hier erst nach langen Jahren religiös einseitiger Erziehung und ist daher mitunter von heftigen Gewissensqualen begleitet. Auch handelt ein Schüler, der während des Besuchs der Schule außerhalb der Unterrichtszeit sein Gebet verrichtet1, nicht selbstbestimmt, sondern nach den Regeln der ihm vermittelten Religion fremdbestimmt. Nicht einmal die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechtfertigt den Entzug der elterlichen Sorge2, es sei denn es bestünde Gefahr körperlicher Züchtigungen.3Ähnliche Probleme stellen sich in allen Lebensbereichen wie z.B. in Politik, Werbung, Medizin, Kunst etc. Die Eltern und deren sozioökonomische Verhältnisse, ihre Werte sowie Verhaltensweisen gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.4
c) Daher ist es durchaus verständlich und berechtigt, dass sich das Werk sich auf die Praxis konzentriert, in denen Kinder- und Jugendhilfe verstärkt zu einem gegenwärtig und zukünftig selbstbestimmtem Leben beitragen kann, wie u.a. in den Bereichen von
§ 9 SGB VIII (Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von jungen Menschen):
"Neue Grundrichtungen: Geschlechtervielfalt und inklusiv", S. 22 - 24,
§ 8 SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung), § 10a SGB VIII (Beratung), § 36 SGB VIII ( Mitwirkung, Hilfeplan), neu § 41a SGB VIII (Nachbetreuung) sowie § 42 SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen):
"Adressatenorientierte Aufgabenwahrnehmung" ("wahrnehmbare Form") , S. 24 - 28,
§ 80 SGB VIII (Jugendhilfeplanung) i.V.m. § 79a SGB VIII (Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe), § 77 SGB VIII (Vereinbarungen über Kostenübernahme und Qualitätsentwicklung bei ambulanten Leistungen) sowie § 78b SGB VIII (Voraussetzungen für die Übernahme des Leistungsentgelts):
"Inklusion in Bedarfsplanung und Qualitätsentwicklung", S. 28 - 31,
§ 10a SGB VIII (Beratung), § 36a SGB VIII (Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung), § 80 SGB VIII ( Jugendhilfeplanung) sowie § 79 SGB VIII (Gesamtverantwortung, Grundausstattung):
"Stärkung niedrigschwelliger Hilfen und Koordinierung der Angebote im Sozialraum", S. 31 -40 und
"Ausstattung der Jugendämter mit ausreichend Fachkräften, Verfahren zur Personalbemessung", S. 41 - 42.
In der beschriebenen Weise geht das Werk alle Fragen an, die das KJSG mit bringt - eine bemerkenswerte Leistung.
Fazit
Wer die KJSG-Reform verstehen will, kommt am Meysen | Lohse | Schönecker | Smessaert, Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG nicht vorbei. Das Werk sollte und darf auf keinem Schreibtisch eines Praktikers des Kinder- und Jugenhilferechts und erst recht in keinem Jugendamt fehlen.
Rezensent: Dr. Axel Schwarz, Moritzburg
1BVerwG, Urt. v. 30.11.2011 - 6 C 20.10 (Religionsmündigkeit und Schulfrieden).
2OLG Frankfurt, Beschl. v. 19.05.2020 - 4 UF 82/20 und 4 UF 85/20.
3EGMR, Urt. v. 22.03.2018 - 11308/16, 11344/16, 68125/14, 72204/14, NZFam 7/2018, 6.
4OLG Karlsruhe, Beschl. v. 03.03.2017 - 18 UF 159/16; BVerfG, Beschl. v. 29.01.2010 - 1 BvR 374/09.